Unser Jahresthema 2018

"Niemand ist je vom Geben arm geworden." - Anne Frank

Als ich dieses Zitat von Anne Frank das erste Mal las, stockte ich kurz und überlegte, wieso diese Aussage kein Paradoxon ist. Geben und nicht arm werden – wie passt das zusammen? Das brachte mich zum Nachdenken und ich begann, mir über die Bauteile des Satzes Gedanken zu machen und ihn mal etwas auseinander zu nehmen:

 

„Niemand“ ist die Kurzform von „Nie jemand“. Also keine einzige Person auf der ganzen Welt. Das ist mal ein steiler Anfang für einen Satz.

 

„Je“ ist eine Zeitangabe: Noch nie in all der vergangenen Zeit.

 

Der Satz beginnt also mit einem Warnzeichen: Hört zu, das ist wichtig. Denn das betrifft alle Menschen, die je auf dieser Welt gelebt haben oder noch leben!

 

Als nächstes geht es weiter mit den Wörtern „arm“ und „geben“, die direkt hintereinander kommen.

 

„Arm“: Die erste Assoziation ist, dass man wenig materiellen Besitz hat. Damit können wir als Pfadfinderinnen ganz gut umgehen, oder? Zumindest wissen wir, dass es manchmal gut ist, wenn man nicht unnötig viel dabeihat und sich der Rücken über eine Gewichtsreduzierung doch sehr freut, wenn man auf Fahrt ist. Auf einer Fahrt ist es wichtig, dass man von allem genug, aber von nichts zu viel hat. Doch sind wir arm, wenn wir auf Fahrt gehen? Nicht wirklich.
„Richtige“ materielle Armut kennen wir größtenteils aus Berichten aus ärmeren Ländern oder von Menschen, die hier in Deutschland auf der Straße wohnen. Wenn wir Fotos sehen, wo Kinder nur ein Hemd anhaben oder wenn wir den Blick auf die ärmeren Leute richten, wenn wir in Frankfurt über die Zeil gehen. Diese Menschen wissen auch, wie es ist, wenn es mal nicht gleich etwas zu essen gibt, sobald einem der Magen knurrt. Damit könnte ich zum Beispiel nicht gut umgehen. Doch abgesehen von der materiellen Armut sind diese Menschen oft nicht weniger glücklich als wir es sind.

 

Armut kann aber auch noch etwas anderes bedeuten: Man ist arm, wenn man etwas nicht oder von etwas nur sehr wenig hat, wodurch man selbst eingeschränkt wird. Das kann zum Beispiel Hoffnung, Motivation, Mut, Anerkennung, Freude oder die Liebe sein. Wenn man davon wenig hat, ist man eingeschränkt, etwas zu tun. Ohne Hoffnung hat man keine Motivation. Ohne Motivation fällt es einem schwer, mutig zu sein. Ohne dass man sich selbst zeigt und ins Gespräch kommt, bekommt man keine Anerkennung und kein Lob von den anderen. Dann bleibt die Freude oft versteckt; bei jedem für sich. Und ohne Liebe – was ist dann noch wichtig?

 

Diese Art von Armut wollen die Menschen normalerweise, genauso wie auch die materielle Armut, umgehen. Wer will schon gerne eingeschränkt sein? Man möchte schließlich die Möglichkeiten haben, das zu tun, was man gerne möchte. Man möchte frei sein. Diese Sachen kann man nicht alleine durch sich selbst bekommen. Klar, man kann sich selbst motivieren, man kann sich selbst loben, wenn man etwas gut gemacht hat. Man kann sich auch selbst lieben, aber wertvoll sind diese Dinge besonders, wenn man sie von anderen bekommt. Deshalb lasst uns in dem Satz weitergehen:

 

„Geben“: Das ist eine Eigenschaft, die ich sehr schätze. Jeder mag es, etwas gegeben oder geschenkt zu bekommen. Es ist eine Geste, die zeigt, dass an einen gedacht wird. Doch Geben ist manchmal nicht so leicht. Vor allem bei Dingen, die einem selbst wichtig sind. Beim Geben kann leicht das Gefühl entstehen, zu kurz zu kommen. „Ich gebe anderen immer so viel und bekomme nichts zurück.“ Geben allein reicht nicht. Wenn man immer nur gibt, ist man irgendwann leer. Der Haken beim Geben ist, dass man auch Empfangen können muss. Schenken bedeutet, keine direkte Gegenleistung zu erwarten. Oft drückt sich der Gedanke in unseren Köpfen rum, dass man sich revanchieren und etwas zurückgeben muss. Wieso fällt es uns so schwer, Geschenke oder Gaben einfach anzunehmen? Vielleicht, weil man seine Freude nicht für sich alleine behalten mag. Oder, weil man im Laufe des Älter-Werdens verlernt hat, einfach etwas anzunehmen, so wie man es als Kind noch konnte. Möglicherweise hat das auch Jesus gemeint, als er zu den Menschen sagte: „Werdet wie die Kinder.“ (vgl. Matthäus 18,3) Man kann nichts dafür tun, um Gottes Liebe zu bekommen. Man muss sie einfach annehmen und als Geschenk akzeptieren.

 

Zusammengefasst stellt sich bei Anne Franks Zitat die Frage: Wie kann man etwas hergeben, ohne dass man selbst arm wird?

 

Vor ein paar Jahren hatte ich um die Weihnachtszeit viel um die Ohren. Deshalb dachte ich mir: „Dieses Jahr mache ich mir nicht viel Mühe mit Geschenken.“ Das war auch völlig in Ordnung. Alle Menschen hatten Verständnis dafür. Doch die Person, die nicht glücklich damit war, war ich selbst. Ich habe es zuerst nicht bemerkt. Ich habe mich über meine Geschenke gefreut, doch irgendetwas fehlte. Nach einiger Zeit bemerkte ich es: Die Freude auf den anderen Gesichtern über die Geschenke, die sie von mir bekamen, war nicht da. Das machte mich selbst unglücklich und ich bemerkte, was es mir selbst für eine Freude bereitet, anderen Menschen etwas zu schenken. Dieses Gefühl, andere Menschen glücklich zu machen, vermisste ich in diesem Jahr und ich nahm mir vor, in den nächsten Jahren wieder kreativer zu werden.

 

Um auf die obige Frage zu antworten: Ich glaube, man muss sich mitfreuen, wenn man anderen Menschen etwas gibt. Denn diese Freude ist etwas ganz Besonderes. So wird man nicht nur nicht arm, wenn man etwas gibt, sondern sogar ein ganzes Stück reicher, als man es vorher war.

 

Anne Frank war damals in einer ganz anderen Lebenssituation als wir heute und ihr Zitat bekommt unter dieser Berücksichtigung eine andere Bedeutung. Vielleicht hat sie sich gewünscht, dass mehr Menschen diese Lebensweisheit verstehen und auch anwenden und sich so die Zeiten ändern. Doch egal in welcher Lebenssituation man gerade steckt, bleibt der Kerngedanke doch gleich.

 

Ich habe das, was Anne Frank hier meint, vor ein paar Wochen erlebt. Ich war mit einigen anderen Leuten in Taizé, einer Kommunität in Frankreich. Dort saß ich nach dem Abendgebet noch länger in der Kirche, habe verschiedene Gedanken aufgeschrieben und den Gesängen zugehört, die die Kirche dort bis in die Nacht hinein erfüllen. Ein Stück weiter links von mir saß ein Mädchen und malte einen bunten Elefanten auf einen Aquarellpapierblock, der auf ihrem Schoß lag. Wie ich sie so sitzen sah, erinnerte sie mich an meinen letzten Taizé-Aufenthalt, bei dem ich auch Aquarellfarben dabeihatte und vor der Kirche gemalt habe. Diesem Mädchen beim Malen zuzusehen, machte mich glücklich und motivierte mich. Ich war plötzlich von einer tiefen Freude ergriffen. Sie hat mir etwas gegeben, was ich ihr ein Stück weit zurückgeben wollte. Ich überlegte, ob ich zu ihr gehen und ihr sagen soll, dass sie sehr schön malen kann. Das wollte ich aber nicht, weil ich mir dachte, dass sie sich dann zwar kurz darüber freut, es danach aber schnell wieder vergisst. Ich wollte etwas machen, was länger anhält. Da der Elefant schon fast fertig war, drängte die Zeit. Durch meine plötzliche Motivation bekam ich den Mut und fing an. Ich nahm mir ein Papier und begann, das Mädchen beim Malen zu zeichnen. Ganz schnell kritzelte ich sie auf mein Blatt. Hier ein paar Schatten, dort ein paar wuschelige Haare. Darunter schrieb ich, dass sie sehr schön aussehe, wenn sie male, faltete den Zettel zusammen und gab ihn ihr. Sie schaute mich zuerst fragend an und ich nutzte die Zeit ihrer Verwirrung, um auf meinen Platz zurück zu kehren. Als sie den Zettel auffaltete, grinste sie mich glücklich an. Danach beachtete ich sie nicht weiter; ich hatte meine Aufgabe erfüllt und begann, meine Sachen zu packen. Kurze Zeit später kam sie jedoch an, und gab mir einen dünnen Streifen ihres Papiers, auf das sie mit schöner Schrift „Thank you“, geschrieben hatte. Das überwältigte mich so, dass ich plötzlich einen unerwarteten Schwung guter Laune bekam, der danach noch lange anhielt und mit dem ich auch andere aus meinem Zelt anstecken konnte.

 

In dieser Situation hatte mir das Mädchen, ohne dass sie es wusste und beabsichtigte, eine Erinnerung geschenkt. Ich habe ihr dafür gedankt und sie hat mir dafür gedankt. Wenn ich ihr den Zettel nicht gegeben hätte, wäre diese Freude nur bei mir geblieben und hätte sich nicht entfaltet. Aber dadurch, dass ich sie mit ihr geteilt habe, sind wir beide aufgeblüht.

 

Das Zitat von Anne Frank enthält eine tiefe Botschaft, über die ich mir am Anfang, als wir das Jahresthema festgelegt haben, nicht bewusst war. Doch jetzt ermutigt sie mich immer wieder, anderen ein Stück abzugeben. Sei es ein Stück Hoffnung, Motivation, Mut, Freude oder Liebe. Und ich stelle immer wieder fest, wie sehr es mich selbst erfüllt.